Rolf Anliker
aus Bülach wird zur Adventszeit zum Samichlaus.
Als Living Library präsentierten sich sechs Menschen in der Bibliothek Embrach und schlugen spannende Kapitel auf. Der Abend bot Gelegenheit, gängige Vorurteile abzubauen.
Embrach Ist jemand für uns ein offenes Buch, zeugt dies von Nähe und Vertrautheit. Wie interessant es jedoch sein kann, Einblick in die Lebensgeschichte von jemandem zu erhalten, der uns fremd ist und zu dem wir vielleicht keinerlei Berührungspunkte haben, liess sich am vergangenen Donnerstagabend am Anlass Living Library in der Bibliothek Embrach erleben. Sechs Menschen stellten sich als lebendige Bücher zur Verfügung und erzählten Kapitel aus ihrem Leben – spannend, berührend, amüsant.
«Als der Verein JASS im Januar auf der Gemeinde das Konzept von Living Library präsentierte, waren wir sofort Feuer und Flamme», sagte Gemeinderat Roland Zehnder. Vorurteile abbauen, Menschen miteinander in Kontakt bringen und soziale Inklusion fördern, sind die Ziele des Vereins, erklärte Manuel Reutimann, der als Projektleiter durch den Abend führte. Statt wie geplant in sechs kleinen Gruppen für jeweils 15 Minuten mit einem Buch zu verweilen, setzten sich die Bücher mit der überschaubaren Gästeschar kurzerhand im Kreis zusammen, um einander zuzuhören und gemeinsam zu diskutieren.
Unter dem Buchtitel «Ich und die anderen» stellte sich Esin als Schweizer Muslimin vor und berichtete von ihrer Suche nach Identität und der Zerrissenheit zwischen den Kulturen. «Ich möchte Menschen mit meiner Geschichte helfen», sagt Senait, die vor zwölf Jahren aus Eritrea flüchtete und sich ihr Leben gegen viele Widerstände neu aufbauen konnte. Der Embracher Olivenölproduzent Nicola di Capua berichtete von seinem jugendlichen Martyrium als Linkshänder und wie er zu seinem Theater im Pferdestall des historischen Amtshauses kam. Als vielseitig engagiert präsentierte sich Gemeindepräsident Erhard Büchi – während er hauptberuflich über drei Jahrzehnte Seminare zu Finanz- und Rechnungswesen gab, pflegte er sein «Hobby» als Verwaltungsratspräsident der Raiffeisenbank.
«Ein fast ganz normales Leben» führte Levin Schneider, bis ihn Kollegen bei der TV-Datingshow Bachelorette anmeldeten und für den Embracher Bankangestellten ein grosses Abenteuer begann. Vor Südafrikas Traumkulisse buhlte er gegen 20 Konkurrenten um das Herz einer Frau. «Gefühle sind bei mir schon im Spiel gewesen», gibt er zu, auch wenn er am Ende nicht der Auserwählte war. Ihm sei es während der Dreharbeiten gelungen, sich selbst treu zu bleiben: «Wenn du über sechs Wochen täglich gefilmt wirst, vergisst du irgendwann die Kameras.»
«Die Vorstellung, zum ersten Mal als Frau nach draussen zu gehen, war ein Horrorszenario», erinnert sich Mona, doch als sie es schliesslich wagte, sei gar nichts passiert. Sie lernte einen männlichen Beruf als Mechaniker, fuhr Lastwagen und war 19 Jahre verheiratet, bevor sie sich endgültig eingestand, im falschen, weil männlichen Körper geboren zu sein. Aus der Depression und der Alkoholabhängigkeit half ihr der Entschluss, das Geschlecht mit allen Konsequenzen zu wechseln. «Das Teil muss weg», entschied sich Mona vor drei Jahren zur Operation. «Dass ich lesbisch bin, erstaunt viele.» Längst habe sie sich ein grosses Netzwerk aufgebaut und sei in der Frauenbewegung aktiv.
«Mir hat der Abend gut gefallen», sagte Arlette Zehnder, die als Gast zugegen war. «Ein sehr angenehmer Rahmen, um mit so unterschiedlichen Menschen in Kontakt zu kommen», stellte sie beim anschliessenden Apéro fest.
Mehr Infos unter: www.jass-mit.ch
Martina Kleinsorg
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