Rolf Anliker
aus Bülach wird zur Adventszeit zum Samichlaus.
Rechtsanwalt Stephan Schlegel findet das Urteil gegen Carlos zu hart. z.V.g.
Carlos ist schuldig: Wegeninsgesamt 29 Delikten muss der 24-Jährige vier Jahre und neun Monate ins Gefängnis, dazu kommt eine «kleine Verwahrung». Eine Einschätzung des Urteils, weshalb die Verteidigung mit der Strafe nicht einverstanden ist und warum Carlos neues Ungemach droht.
Dielsdorf Die Liste der Straftaten, für die Carlos am vergangenen Mittwoch vom Bezirksgericht Dielsdorf verurteilt wurde, ist lang: versuchte schwere Körperverletzung, mehrfache einfache Körperverletzung, mehrfache Drohung, mehrfache Drohung gegen Behörden und Beamte, mehrfache Beschimpfung und Sachbeschädigung. Aus Platzgründen hat das Bezirksgericht Dielsdorf die Urteilsverkündung im Bezirksgericht Zürich abgehalten und gab bekannt: Carlos soll vier Jahre und neun Monate ins Gefängnis, zudem wurde eine stationäre therapeutische Massnahme, eine «kleine Verwahrung», angeordnet.
Somit hat sich das Gericht für einen Mittelweg entschieden. Denn: Die Staatsanwaltschaft forderte 7,5 Jahre Gefängnis mit anschliessender Verwahrung sowie eine Geldstrafe für alle Delikte, die der 24-Jährige während seiner Haft begangen hatte. Gemäss Anklageschrift soll sich Carlos zwischen Januar 2017 und Oktober 2018 in verschiedenen Institutionen und Gefängnissen strafbar gemacht haben. Das schwerwiegendste Delikt: Carlos hat – gemäss Gericht – im Juni 2017 einen Aufseher in der Strafanstalt Pöschwies in Regensdorf übel verprügelt.
Gerichtspräsident Marc Gmünder erklärte das Urteil wie folgt: «Die Zeit der Jugendstrafen ist vorbei. Carlos befindet sich in einer Abwärtsspirale, der mit einer stationären Massnahme ein Ende bereitet werden muss.» Das Gericht kam zum Schluss, dass Carlos' Rückfallquote «evident» sei. Man müsse die Öffentlichkeit schützen, weshalb Carlos eine kleine Verwahrung erhalte. Der junge Mann solle sich einer stationären Therapie unterziehen – seine psychische Störung solle behandelt werden.
Anders sieht dies Strafrechtsexperte Stephan Schlegel, Rechtsanwalt und Lehrbeauftragter der Universität Zürich. «Die Strafe ist zu hart.» Der Tatbestand – versuchte schwere Körperverletzung – sei taktisch eingesetzt worden, um Carlos aus dem Verkehr zu ziehen. Die Verletzungen des Opfers in der Pöschwies, Prellungen und ein leichtes Schädel-Hirn-Trauma, seien nicht schwerwiegend. Dass Carlos sein Opfer habe lebensgefährlich verletzen wollen, sei eine Annahme, die man machen könne, aber nicht machen müsse. Die Staatsanwaltschaft habe ein solches Delikt aber gebraucht, um eine ordentliche Verwahrung zu fordern. «Und das Gericht hat ein Stück weit mitgemacht», so der Anwalt.
Thomas Häusermann, Verteidiger des Angeklagten, akzeptiert die Strafe nicht, wie er der NZZ sagte. Er halte eine stationäre Therapie angesichts der Vorgeschichte seines Mandanten für keine zielführende Option und fordere eine «angemessene» Freiheitsstrafe. Deshalb werde er den Fall ans Obergericht weiterziehen. Auch Schlegel hätte diesen Weg gewählt. «Die Verteidigung soll nur eine Freiheitsstrafe beantragen, damit Carlos weiss, dass er eines Tages wieder freikommt.» In seine Augen sei nämlich genau dies das Problem. «Eine stationäre Massnahme kann alle fünf Jahre verlängert werden – im Extremfall bis ans Lebensende.» Normale Gefangene wüssten hingegen, dass sie, sobald sie ihre Strafe abgesessen haben, aus dem Gefängnis entlassen würden. «Das gibt Hoffnung.» Diese fehle Carlos gänzlich.
Wie bereits bei der Verhandlung ist Carlos auch an der Urteilseröffnung nicht am Bezirksgericht Zürich erschienen. Diese Entscheidung hatte gemäss Schlegel wohl Vor- und Nachteile. Einerseits habe sich Gerichtspräsident Gmünder ein eigenes Bild vom Angeklagten machen können, weil er wegen des Nichterscheinens für ein Gespräch mit Carlos in die Strafanstalt Pöschwies gefahren war. «Anderseits hätte Carlos das Gericht vor Ort beeinflussen können, wenn er sich benommen hätte – das kann er, wie er auch schon bewiesen hat.» Nun sei es ein Abwesenheitsverfahren gewesen, das lediglich auf Akten beruhte. Akten, in denen möglicherweise nicht die ganze Vorgeschichte stehe. Diese sei im Prozess für den Strafrechtsexperten aber zentral: «Man kann Carlos nicht beurteilen, ohne seine Vergangenheit zu kennen.»
Abgesehen davon, dass das jüngste Urteil an das Obergericht weitergezogen wird, droht Carlos schon weiteres Ungemach: Es wurde bereits ein neues Verfahren gegen ihn eröffnet. Die Staatsanwaltschaft wirft ihm mindestens 16 weitere Delikte vor, die er von November 2018 bis August 2019 begangen haben soll – ebenfalls allesamt in Haft.
Ramona Kobe
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